"Oftmals habe ich schon damals meine gefühlte Andersartigkeit in Selbstironie gepackt."

Mai, 2019 von Ilona Kofler in Fachartikel und Interviews

Ich hatte die Ehre, mit Jérome*, einem 31-jährigen hochsensiblen Mann ein Interview über seine Wahrnehmungsbegabung zu führen und möchte es hier in meinem Blog mit euch teilen.

Vielen Dank für deine Zeit und deine Offenheit Jérome*!

 

 

Wann bzw. wie hast du von deiner Hochsensibilität erfahren?

Ich habe schon mit vier oder fünf Jahren gemerkt, dass ich anders und mehr wahrnehme. Meine Eltern konnten nichts vor mir verbergen – ich habe alles gemerkt. Mir sind damals schon mehr Details und Kleinigkeiten aufgefallen. Als ich dann zur Schule ging, habe ich mich gefragt, warum die anderen das, was ich bemerke, nicht oder in geringerem Maße wahrnehmen. Auch habe ich in der Schule viel mehr hinterfragt, wollte alles wissen und konnte zwischen den Zeilen lesen.

 

Oftmals habe ich schon damals meine gefühlte Andersartigkeit in Selbstironie gepackt.

 

Mir ist schon früh aufgefallen, dass ich sehr empfindlich auf Kälte (alles unter 20°C) reagiere.

Ich würde mich als Weichei bezeichnen, habe damit aber kein Problem – ganz im Gegenteil: Ich finde, jeder sollte zu seiner sensiblen Seite stehen und sich nicht härter geben, als er ist.

Menschen, die sich hart nach außen geben, sind oft die größten Sensibelchen. Mehr emotionale Transparenz täte der Allgemeinheit gut. Man sollte es aber auch nicht übertreiben. Meine Freiheit endet da, wo deine anfängt.

Dass es einen Namen dafür gibt, habe ich tatsächlich dann durch dich Ilona, das Reden mit dir und einem deiner Vorträge zum Thema Hochsensibilität erfahren. Ich habe „Hochsensibilität“ gegoogelt, einen Onlinefragebogen durchgeführt und konnte tatsächlich die meisten Fragen mit Ja beantworten.

 

Wie sind deine Eltern mit deiner besonderen Wahrnehmung umgegangen?

Meine Eltern haben mich immer so angenommen, wie ich war und bin und mich bestärkt. Sie haben mich „mein Ding machen lassen“. Ich denke, mein Vater ist auch sehr sensibel, deshalb konnte er mich gut verstehen und meine Entscheidungen nachvollziehen. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und wenn seine Zeit es zugelassen hat, hat er sich viel mit mir beschäftigt.

 

Das Thema Hochsensibilität war als solches nicht präsent, aber durch das Gefühl des Angenommenseins ist das nicht nötig gewesen – ich konnte ja immer so sein wie ich bin.

 

Ein Erlebnis aus meiner Kindheit mit meinem Vater ist mir sehr gut in Erinnerung geblieben:

Als Kind wurde mir von anderen Kindern meine Mütze weggenommen und in den Baum geworfen, wo sie hängengeblieben war. Mein Vater sagte zu dem Vorfall: „Reg dich nicht auf und halte dich damit nicht länger als nötig auf, diese Menschen sind arm im Geiste.“

 

Was empfindest du als besondere Stärken deiner Hochsensibilität?

Ich beobachte sehr genau und auch sehr gerne. Ich kann Details und Stimmungen wahrnehmen, ohne dass sie geäußert werden. Es macht mir Spaß, Menschen zu beobachten und mehr über Ihre Beweggründe zu erfahren.

 

Ich mag meinen Humor – er ist etwas anders geartet als bei den meisten Menschen, die ich kenne. Manchmal brauche ich etwas länger und über flache, oberflächliche Witze kann ich auch sehr lachen, aber auf einer anderen Ebene. (Ich meine damit, dass ich auch sehr über rassistische oder sexistische Witze lachen kann. Es kommt immer auf Erzähler und Kontext an. Man muss Aussagen von allen Seiten betrachten, um sie einordnen zu können. Auf der ersten Ebene (zB.: Mario Barth) sind solche Witze natürlich einfach nur Beleidigungen. Auf anderen Ebenen verraten sie aber auch viel über den Erzähler, das Erzählte und über die Leute, die darüber lachen. Ich bin auch einfach der Meinung, man sollte über alles Witze machen dürfen oder über gar nichts. Außerdem komme ich an keinem noch so schlechten Wortspiel vorbei.

 

Ich bin ehrlich, offen und authentisch.

 

Ich bin effektiv und schätze vor allem kurze Antworten. Ich mag es nicht, um den sprichwörtlichen heißen Brei herumzureden. Ich schätze es, Dinge beim Namen zu nennen, auch deshalb, um dem anderen nicht die Zeit zu stehlen.

 

Ich sehe mehr scheinbare Kleinigkeiten und feine Nuancen, mir fallen Fehler rasch auf. Ich lese zwischen den Zeilen und kann auf Anhieb mehr Zusammenhänge sehen.

 

Wieder ein Beispiel: Ich spiele Fußball und sehe Räume, die die anderen nicht sehen, weil sie im Moment des Zuspiels noch gar nicht existieren. Ein Trainer hat einmal zu mir gesagt: „Du spielst Pässe, die ich selbst als dein Trainer nicht von oben sehen kann!“

 

Wenn ich verbal oder körperlich angegriffen werde, möchte ich nicht zurückschlagen, sondern frage mich: Welche Beweggründe hat derjenige, dass er denkt, so zu handeln zu müssen? Ich fühle mich in das Gegenüber ein und nehme ihn/sie in Schutz.

 

Meine Hochsensibilität ist eine Superkraft, die ich gezielt in jedem Lebensbereich einsetzen kann, um ein besserer Mensch zu sein und zu werden.

Ich kann sehr gut mit Kindern umgehen, Kinder mögen mich – wahrscheinlich spüren sie, dass ich mich auf Augenhöhe mit ihnen bewege.

 

Ich beobachte, dass die meisten Erwachsenen Kinder nicht ernst nehmen oder sogar Angst vor ihnen haben, dabei sind sie meist weiser und reifer als so manch „Großer“. „Große“ ändern ihre Stimmlage und reden mit „Kleinen“ und Tieren als wären sie Idioten. „Großen“ wurden oft das Fragen und die Begeisterungsfähigkeit abtrainiert.

Es kommt mir vor, als hätten sie vergessen, dass sie auch mal klein waren. „Große“ profilieren sich darüber, wer mehr arbeitet, über Besitz und Geld, sie reden über das Klima, Autos, Politik, Dinge über die sie eine Meinung haben, aber eigentlich selbst nur äußerst oberflächlich verstehen, um dann mit auswendig gelernten Floskeln loszupoltern. Auf Familienfeiern bin ich immer sehr dankbar, wenn es viele Kinder gibt;-)

 

Was sind deine größten Herausforderungen als HSP?

Ich glaube, ich wäre glücklicher, wenn ich weniger wahrnehmen würde.

 

Auch denke ich, dass meine Mitmenschen es leichter hätten, wenn ich weniger wahrnehmen würde – so könnten sie einfacher mit mir umgehen.

 

Ich mag es, für mich allein Dinge zu tun, die ich gerne mache:

Etwas bauen, fotografieren, Videos erstellen. Ich mache mir Gedanken, wie ich das, was ich vorhabe, am Besten machen kann, ich will es perfekt machen – und das braucht Zeit. Meine Mitmenschen haben aber oftmals nicht die Geduld, mich machen zu lassen. Auch möchte ich nicht erklären müssen, was ich darüber denke und wie ich es dann ausführe. Ich möchte dann nicht Fragen beantworten und Ratschläge annehmen müssen, weil ich ja am Besten weiß, wie ich es in die Tat umsetzen werde.

 

Ich habe einen Hang zum Perfektionismus und das kommt in meiner Umgebung nicht immer gut an.

 

Als große Herausforderung im Arbeitsleben empfinde ich den Umgang mit Kollegen. Ich brauche eine harmonische Atmosphäre, um nach meinen Vorstellungen arbeiten zu können und möchte eine gute Beziehung zu meinen Kollegen aufbauen. Ich beobachte sehr genau, wie die anderen arbeiten und interagieren und stelle mich unbewusst darauf ein.

 

Arbeiten in der Gruppe und Meetings sind deshalb sehr anstrengend für mich, weil ich mich auf die anderen ein schwinge. Ganz oft merke ich, wie unauthentisch und egogesteuert es in der Arbeit zugeht.

Die meisten achten nur auf sich, auf ihren Vorteil, ohne sich darum zu kümmern, ob das gut fürs Team und das Miteinander ist.

Ich sehe mich in solchen Situationen als Vermittler, als jemand, der ein harmonisches und ehrliches Interagieren fördert. Im Nachhinein merke ich dann aber oft, wie sehr mich das anstrengt, wie ausgelaugt und müde mich das macht.

 

Am Anfang hat es mich sehr gestört, dass der Lauteste von allen gehört und seine Ideen umgesetzt bekommen hat, ich habe mich oftmals gefragt: Bin ich zu langsam?

Dann habe ich mir bewusst gemacht, das ich viel mehr wahrnehme, viel mehr durchdenke und dadurch viel mehr zu verarbeiten habe.

Bisher habe ich leider die Erfahrung gemacht, dass ich mit meinen Ideen nicht weiter komme und habe mich dadurch oftmals zurückgezogen.

Ich mache dann „Dienst nach Vorschrift“ und vergeude meine Kraft nicht mehr an einem Arbeitsplatz, wo mein Tiefgang und meine Begabung nicht gesehen werden.

Somit konzentriere ich mich auf meine Freizeit und lebe dort meine Ideen.

Es gibt Führungskräfte, die minutenlang reden, ohne auf den Punkt zu kommen. Ich habe nach sehr kurzer Zeit schon verstanden, was er will und denke: Warum sagt hier keiner was er wirklich denkt? Warum vergeuden wir so viel Zeit mit unnützem Geschwätz? Was ich nicht an mir mag, ist mein daraus resultierender Zynismus, den die anderen dann zu spüren bekommen.

 

Was können wir von hochsensiblen Menschen lernen?

Ich wünsche mir, dass mehr Menschen auf Details und Kleinigkeiten achten – in der Umgebung, aber auch im Umgang miteinander. Mehr Achtsamkeit und Empathie für den anderen aufbringen würde unserem Miteinander sehr gut tun.

Auch sich die kindliche Begeisterung erhalten fände ich sehr erstrebenswert.

 

Was würdest du anderen hochsensiblen Menschen raten? Worauf sollte man als feinfühliger Mann besonders achten?

Ich rate dazu, zu seiner Feinfühligkeit und seiner Wahrnehmungsbegabung zu stehen, sich nichts von der Gesellschaft vorgeben zu lassen, sondern stets zu hinterfragen und zu seinen eigenen Bedürfnissen zu stehen. Mir ist bewusst, dass Theorie und Praxis zwei unterschiedliche Paar Schuhe sind. Selbstzufriedenheit ist eine Lebensaufgabe.

 

Noch ein Tipp: Rechtfertigt euch nicht, das seid ihr niemandem schuldig.

 

Höre auf dich selbst und lerne, aus der vermeintlichen Schwäche eine Superstärke zu ziehen, denn das ist Hochsensibilität für mich: Eine Superkraft!

*Name geändert