Wahrnehmungsbegabung oder wie oder was?

März, 2019 von Ilona Kofler in Gut leben mit Hochsensibilität

Hochsensible Menschen sind keine Neuerscheinung – diesen Eindruck kann man nur bekommen, wenn man sich erst seit Kurzem damit beschäftigt.

Sensitive Menschen hat es immer schon gegeben: Früher waren sie vielleicht Berater des Königs, Seher oder Priester, vermutlich auch Schamanen oder Philosophen.

Schon Laotse hat sich mit Sensibilität beschäftigt, in einem seiner Werke heißt es beispielsweise: „Die von alters her vertraut sind mit der Liebe, sind zart besaitet, gefühlvoll, tief, unergründlich.“

C. G. Jung hat einige seiner Schriften der Sensibilität gewidmet, über seine Wahrnehmung schreibt er u.a.: „Der Unterschied zwischen den meisten anderen Menschen und mir liegt darin, dass bei mir die Zwischenwände durchsichtig sind.“

Auch Alice Miller, Ernst Kretschmer, Iwan Pawlow – sie alle haben sich in ihren Werken und Berufen mit „sensitiven Reaktionstypen“ befasst.

 

Hochsensibilität, Hochsensitivität, Hochbegabung, Überempfindlichkeit, Hypersensibilität… all das sind Begriffe, die im Zusammenhang mit feinfühligen, sensitiven Menschen genannt werden. Ich mag am liebsten den Begriff Wahrnehmungsbegabung, er setzt sich aus zwei Wörtern zusammen, die Hochsensibilität am treffendsten beschreiben: Wahrnehmung und Begabung.

 

Elaine N. Aron, eine amerikanische Psychotherapeutin, Hochschulprofessorin, Forscherin, Autorin und selbst hochsensibel, hat in den Neunziger Jahren des letzen Jahrhunderts einen Namen für feinfühlige Menschen definiert: highly sensitive person. Die Meinungen zur richtigen Übersetzung des Begriffes gehen auseinander – durchgesetzt hat sich Hochsensibilität, obwohl Hochsensitivität richtiger und im deutschen Sprachraum etwas positiver besetzt wäre.

 

Hochbegabung ist nicht dasselbe wie Hochsensibilität. Fakt ist allerdings, dass hochbegabte Menschen auch hochsensibel sein können. Für Hochbegabung gibt es einen anerkannten Test, mit dem der IQ festgestellt werden kann; ab einem IQ von 130 gilt man als hochbegabt. Hier ein Link zum Thema Hochbegabung:

https://www.begabtenpaedagogik.de/hochbegabung.html.

 

Geschätzte 15-20% der Menschen weltweit gelten als hochsensibel, sie sind in allen Bevölkerungsschichten, Altersklassen und bei allen Geschlechtern gleich vertreten.

Gesichert sind diese Forschungsergebnisse (noch) nicht, manchmal wird auch von 20-30% gesprochen. Momentan wird weltweit an ca. 50 Universitäten zum Thema Hochsensibilität geforscht, u.a. auch in Hamburg an der Helmut Schmidt Universität:

https://www.hsu-hh.de/diffpsych/forschung/hochsensibilitaet-hsp

 

Zur Forschung bleibt zusammenfassend zu sagen: auch wenn das Phänomen noch nicht lange erforscht wird, kann man eindeutige Schlüsse aus den Ergebnissen ziehen.

Hochsensibilität ist vererbbar und eine neurologische Besonderheit. Anhand von Magnetresonanztomografie und anderen Testverfahren wurden in bestimmten Arealen des Gehirns von HSP erhöhte Tätigkeiten festgestellt. Unter anderem in der Inselrinde, dem sog. Sitz des Bewußtseins. Zudem scheint es so zu sein, dass  der Thalamus, der als Filter im größten Teil des Zwischenhirnes fungiert, bei hochsensiblen Personen mehr Informationen durchlässt.

 

Das heißt also: Unser hochsensibles Gehirn nimmt mehr auf und somit auch wahr und muss mit mehr Reizen und Informationen fertig werden.

Vorstellen kannst du dir das so: Bei HSP sind immer Fenster und Türen geöffnet – Hitze, Kälte, Schnee, Wind – alles kann fast ungehindert ins Haus des Bewußtseins (und somit auch Unterbewußtseins) eindringen. Es gibt weniger Möglichkeiten, sich zu schützen und zu filtern.

Kein Wunder also, dass hochsensible Menschen etwas länger brauchen, um zu verarbeiten, zu sortieren und zu überlegen! Sie müssen vereinfacht gesagt viel mehr beackern. Dass sie somit manchmal als schüchern, introvertiert und langsam gelten, hat schlicht damit zu tun, dass ihre Gehirne emsiger und vielschichter arbeiten.

 

Es wird noch einiges an Forschungsarbeit nötig sein, um das Phänomen Hochsensibilität verstehen und einordnen zu können. Und ganz egal, wie wir es nennen oder zukünftig nennen werden:

Hochsensible Menschen haben in unserer heutigen Gesellschaft des Höher-Schneller-Weiter eine wichtige Funktion: Sie können, um es mit den Worten von C. G. Jung zusammenzufassen: „…mit ihren durchsichtigen Zwischenwänden den Strom des Lebens wahrnehmen…“ und hinter die Fassaden und Masken der Welt blicken.